Rezension zu Anne Brorhilker: Cum/Ex. Milliarden und Moral

Dr. Nicholas Ziegert

19. November 2025

Anne Brorhilker, jahrzehntelang bundesweit bekannt als „Cum-Ex-Ermittlerin Nr. 1“, legt mit Cum/Ex. Milliarden und Moral ein Buch vor, das gleichermaßen persönliche Rechtfertigung, Abrechnung mit strukturellen Blockaden und politischer Kommentar ist. Sie schildert darin ihre berufliche Reise in den größten Steuerskandal der Bundesrepublik: ihre ersten Schritte ohne Spezialisierung auf Finanzmarktkriminalität, ihre Ermittlungsjahre in Köln, die Konflikte innerhalb der Behörden und ihr Ringen mit Banken, Anwälten und potenziellen Kronzeugen.

Ihre Rekonstruktion des Ermittlungsalltags ist anekdotisch: Aktenberge, Routinen wie „Kaffeeküchenmeetings“, Begegnungen mit Bankern, deren Auftreten sie mit negativer Wertung beschreibt, und die mühselige Arbeit, aus verstreuten Informationen ein beweisbares Gesamtbild zu formen. Zentral ist ihr Versuch, Kronzeugen zu gewinnen – ein Ermittlungsinstrument, das sie als reines Werkzeug versteht: es geht nicht um moralisch geläuterte Geständnispartner, sondern um taktische Informationsquellen aus einem eng verflochtenen Milieu von Händlern, Beratern und Finanzjuristen zu gewinnen.

Im Laufe des Buchs verschiebt sich jedoch der Fokus. Brorhilker richtet ihre Kritik nun weniger auf die Täter der Finanzindustrie, sondern zunehmend auf den Staat selbst: auf schlecht organisierte Steuerverwaltungen, überlastete Staatsanwaltschaften und eine Politik, die komplexe Wirtschaftskriminalität jahrzehntelang unterschätzt habe. Ihr Buch wird damit zu einer strukturellen Anklage gegen ihr altes Arbeitsumfeld – und zugleich die Rechtfertigung ihres beruflichen Wechsels zur Lobbyorganisation Finanzwende e.V.

Dabei tritt ein zweites Motiv deutlich hervor: ein feministischer Blick auf die Machtarchitektur der deutschen Finanz-, Behörden- und Justizwelt. Brorhilker beschreibt eine Umgebung, geprägt von männlicher Dominanz, informellen Seilschaften und hierarchischen Reflexen, die Reformprozesse lähmten und unkonventionelle Ermittlungsansätze blockierten. Dieser Ton wird im Verlauf des Buches derart prägend, dass er die ursprüngliche Cum-Ex-Thematik fast überlagert: Aus der Bankenjägerin wird die Kritikerin männlicher Behördenregime.

Ein formales Stilmittel, das Brorhilker im Buch nutzt, ist das Schwärzen von Textstellen mit Verweis auf das „Dienstgeheimnis“. Doch die wirklich auffälligen Auslassungen betreffen anderes: die WestLB. Während sie ausführlich über andere Landesbanken berichtet, widmet sie der WestLB – obwohl diese nach Presseberichten Steuerschäden von mindestens 500 Millionen Euro verursachte – nur eine kurze Erwähnung in einer Aufzählung. Kein Kontext, keine Bewertung, keine Frage nach Verantwortlichkeiten innerhalb ihres eigenen Bundeslandes.

Gerade vor dem Hintergrund, dass Brorhilker im Interview mit Handelsblatt Crime erklärte, man habe Schwerpunkte „nach Schadenshöhe“ gesetzt, wirkt dieses Schweigen erklärungsbedürftig. Bemerkenswert ist zudem, dass Medienberichten zufolge ein naher Angehöriger Brorhilkers leitend bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft tätig war, die die WestLB auch in Sachen Cum/Ex geprüft hat – eine Tatsache, die das selektive Gewicht der Darstellung zumindest irritierend erscheinen lässt. So drängt sich die Frage auf, ob der starke Fokus auf Hamburg – medial wie strafverfolgerisch – nicht zugleich von möglichen Versäumnissen oder Untiefen rund um die WestLB in Nordrhein-Westfalen ablenkte. Das Buch bleibt diese Antwort schuldig.

Ein weiterer kritischer Punkt ist Brorhilkers veränderte Darstellung des Kronzeugen Dr. Kai-Uwe Steck. Dessen frühere Bedeutung – durch den BGH als wesentlich zur Begründung des Vorsatzes hervorgehoben – relativiert sie nun stark: Inhaltlich seien seine Aussagen kaum noch entscheidend; wichtiger sei seine Rolle als Vermittler weiterer Kronzeugen gewesen. Steck´s Aussagen darüber, wer was wann wusste, waren aber gerade zentral für die Verurteilung einer Reihe von Angeklagten, die nunmehr Freiheitsstrafen absitzen. Doch gerade weil Steck später nachweislich Falschangaben machte, wirkt diese Neubewertung wie eine rückwirkende Schadensbegrenzung.

Hinzu kommen öffentlich dokumentierte Fragwürdigkeiten im Umgang mit Kronzeugen. So wurde in seinem eigenen Strafprozess bekannt, dass Steck seine Vernehmungsprotokolle – einschließlich der Fragen der Ermittlungsbehörden – zu Hause vorformulieren durfte und diese nahezu wortgleich in die offiziellen Protokolle übernommen wurden. Und Brorhilkers Aussage im Ausschuss 2021 – „Wenn man sogenannte Kronzeugen hat, die gestehen, müsse man sich überhaupt nicht mehr einen abbrechen mit Indizien oder sonst was.“ – wirft ein Schlaglicht auf eine Ermittlungsstrategie, die sich offenbar stark auf Aussagen Einzelner verließ.

In diesem Zusammenhang stellt sich zwangsläufig die Frage, ob wichtige Ermittlungen unterblieben, weil Kronzeugen-Narrative als ausreichend betrachtet wurden – eine Frage, der Brorhilker im Buch ausweicht.

Auch ihre öffentliche Rolle bleibt widersprüchlich. Brorhilker trat in mehreren Fernsehdokumentationen auf, teilweise sich selbst spielend, und wurde bereits vom Verwaltungsgericht Köln wegen vorverurteilender Äußerungen gerügt. Zudem wurde öffentlich diskutiert, dass die Tagebucheinträge des Bankiers Olearius – aus der Obhut des Landes NRW – an Medien gelangten, was erhebliche juristische und politische Fragen aufwarf. Das Land NRW wurde deswegen vom Landgericht Köln zu Schadensersatz verurteilt. Warum kam es zu diesen Grenzüberschreitungen zwischen Ermittlungsarbeit und öffentlicher Selbstdarstellung? Das Buch lässt diese Vorgänge weitgehend unerwähnt.

Hinzu kommt eine argumentative Inkonsistenz: Brorhilker behauptet einerseits, Cum/Ex sei im Kern gar nicht so kompliziert – ein Vorwurf gegen Banken, die sich auf Komplexität berufen. Andererseits fordert sie enorme Ausbaumaßnahmen für Ermittlungsbehörden, weil Cum/Ex „unglaublich komplex“ sei. Dieser Widerspruch bleibt konzeptionell ungelöst und unterminiert die analytische Schärfe ihres Buches.

Insgesamt wirkt Cum/Ex. Milliarden und Moral wie eine Rechtfertigungsschrift für den eigenen Kurs und für ihren Abgang aus der Staatsanwaltschaft. Selbstkritik – sei es zu Ermittlungsmethoden, zum Umgang mit Medien, zu rechtlichen Grenzbereichen oder zu den erheblichen internen Konflikten – sucht man vergeblich.

Fazit

Das Buch bietet kaum neue Erkenntnisse zum Cum-Ex-Skandal. Es vertieft weder das Verständnis der Finanzmechanik noch wirft es neues Licht auf die Rolle der beteiligten Banken oder Behörden. Stattdessen liefert es ein politisch-feministisches Selbstporträt einer Ermittlerin, die sich zunehmend als Kämpferin gegen männliche Machtstrukturen und behördliche Trägheit versteht. Für Leserinnen und Leser, die diesen Perspektivwechsel interessieren mag das Werk lohnend sein. Wer jedoch neue Einsichten in Cum/Ex oder eine selbstkritische Aufarbeitung erwartet, wird enttäuscht.

Weitere Informationen:
www.ownly.dewww.family.ownly.de

 

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