Mensch und Technologie, Teil II:

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6. November 2020

Mensch und Technologie, Teil II:

Die Grenzen menschlichen und technologischen Seins: Wie ethisch muss Künstliche Intelligenz handeln?

Sie grüßt. Sie lächelt. Sie fragt der Eintretenden höflich nach seinem Namen, seiner Herkunft und dem Anliegen seines Besuches. Ihre Haare sind hochgesteckt, die Nägel lackiert, sie trägt ein geblümtes Kleid. Sie sagt ihr Name sei Claire, der Chef sei aktuell noch in einem Termin, doch auf dem langen Canapé in der Eingangshalle ließe es sich gut warten. Sie deutet auf ein schmales Sofa direkt neben der Eingangstür. Dann blinzelt sie. Sie lächelt dem Besucher noch einmal höflich zu. Sinkt sie zurück in den Stuhl hinter und starrt auf den Bildschirm vor ihr. Die Augen leer, das Lächeln eingefroren.

Computers will overtake humans with AI in the next 100 years. When that happens, we need to make sure the computers have goals aligned with ours.“

  • Stephen Hawking

War Intelligenz lange Zeit ein Attribut, was rein für die Beschreibung der geistigen Leitungsfähigkeit von Individuen aus Fleisch und Blut genutzt wurde, so fand im Laufe wachsender Digitalisierung eine neue Wortschöpfung statt: Intelligenz kann nun künstlich sein, nicht mehr nur das Ergebnis einer evolutionären Entwicklung und der ständigen biologischen Optimierung  menschlicher Eigenschaften. Sie ist mehr als das. Die Biologie hat die Hoheit über kognitives Denkvermögen verloren; die Technologie erhielt Einzug in einen Bereich, der über Jahrtausende lang als unantastbar galt.

Der Duden beschreibt den Term der Intelligenz als menschliche Fähigkeit zum abstrakten Denken und der daraus folgenden Ableitung zweckvoller Handlungsmöglichkeiten. Menschlich. Oder doch nur menschengemacht?

Künstlich hingegen ist simpel: nicht natürlich.

Artificial Intelligence also als nicht natürlich bedingte Gabe zu klugem Denken und noch klügerem Handeln.

Die Integration eines Wortes, das seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte ihr selbst, später auch anderen natürlichen Wesen, vorbehalten war, in eine Welt, die nicht älter ist als zwanzig Jahre, wirft Fragen auf. Die Frage nach der Konsequenz des Eintauchens menschlicher Eigenschaften in die vom Menschen erzeugte Technologie. Menschlichkeit verwurzelt in ihr. Die Frage nach der Rolle des Schaffenden in einer Welt, in der das Geschaffene ihm überlegen zu sein scheint. Die Frage nach dem Recht auf menschliches Versagen in Zeiten maschineller Unfehlbarkeit. Und die Frage nach dem Wert menschlicher Intelligenz und menschlichen Seins.

Laut der ifo-Studie zur Auswirkung der Digitalisierung auf dem Arbeitsmarkt werden mit einer hinreichend großen Wahrscheinlichkeit von über 70% in den nächsten 10 bis 20 Jahren 47% der Beschäftigten in den USA durch Maschinen und Computeralgorithmen ersetzt werden. Betroffen sind davon insbesondere Routinearbeiten, wie Tätigkeiten am Fließband oder im Lager. Aber auch Beschäftigungen in der Verwaltung, dem Service oder Verkauf könnten – wie es so schön heißt – automatisiert werden. Rationalisiert. Menschliche Arbeitskraft als Kostentreiber, maschinelle hingegen als Optimierungsmöglichkeit.

In manchen Bereichen treffen Algorithmen die Vorauswahl über menschliche Kandidaten eines Bewerbungsprozesses. Zahlengestützte Systeme entscheiden hierbei über die Eignung eines Menschen, über seine Zukunft.

In anderen hingegen wird AI eingesetzt, um den Menschen selbst allwissend zu machen, Stichwort digitale Überwachung. Noch Ende diesen Jahres soll in China das sogenannte Social Credit System starten, ein Punktesystem, was den Angaben der Regierung zufolge „den Ehrlichen Vorteile bietet und die Unehrlichen diszipliniert“. Für alltägliches Fehlverhalten – bei Rot über eine Ampel gehen, die eigenen Eltern selten besuchen oder sich gar unehrlich entschuldigen – gibt’s Punkteabzug. Bonuspunkte hingegen wandern für positive Äußerungen über Chinas Regierende in den sozialen Medien, „heldenhafte Taten“ oder das Spenden von Blut auf das Konto des Betroffenen (Überwachten?). Sämtliche Tätigkeiten werden über verschiedene Systeme erfasst, zusammengetragen und führen bei Addition der jeweiligen Punkte zu eingeschränktem Zugang zu Krediten, öffentlichen Diensten oder dem Ausschluss von der Buchung von Flugreisen. Gleichzeitig können sich jedoch auch Rabatte bei der Nutzung von Verkehrsmitteln und Fitnesseinrichtungen oder Bevorteilung bei Vergabe von Arbeitsplätzen ergeben. Ethisch ein wankendes Balancieren auf dem schmalen Grat der chinesischen Mauer.

Rein mit menschlichen Ressourcen wäre das Unterfangen nicht zu realisieren. Es ist die Schattenseite der Digitalisierung, die die Erfassung persönlicher Daten in einem scheinbar für die Bürger rechtsfreien Raum und ihre Weiterverarbeitung erst möglich macht. Und gleichzeitig ist es auch die Künstliche Intelligenz, die eine Kategorisierung und eine ordnungsgemäße Bepunktung erst möglich macht.

Doch gehört zur Intelligenz nicht auch das kritische Hinterfragen, das Ableiten zweckvoller Handlungen? Hat die KI ihren Titel tatsächlich verdient, wenn ihr Handlungsrahmen sich auf die Absichten ihres Programmierers beschränkt? Und wie intelligent kann ein System sein, dessen Operationen fern von Ethik geschehen?           

Es ist die Grenze zwischen menschlichen und technologischen Seins. Der Grund, weshalb AI niemals ohne ihren Schöpfer existieren kann, er selbst aber möglicherweise auch nicht (mehr) ohne sie. Neugeschaffene Technologie macht in gewisser Weise den Menschen selbst zur Maschine, sie befreit ihn von seinen Defiziten und macht in vollkommen. Das Unmögliche wird nun möglich. Eine Regierung kann Milliarden von Menschen auf Schritt und Tritt verfolgen. Pflege-Roboter können Bedürftige rund um die Uhr betreuen, frei von Müdigkeit und eigenen Bedürfnissen. Google weiß was wir wissen wollen, noch bevor wir eine Frage haben; Amazon schlägt uns den perfekten Teppich vor, noch bevor der Vertrag für das neue Eigenheim unterzeichnet wurde.  Unser Wissen und Handeln kennt keine Grenzen mehr.

Es ist 19 Uhr. Das Büro leert sich langsam, alle kämpfen sich möglichst schnell durch das Feierabendchaos nach Hause zu ihren Liebsten. Am Ende des langen Flurs in der gläsernen Eingangshalle sitzt Claire. Sie lächelt. Sie blinzelt. Sie wünscht dem Austretenden einen angenehmen Abend. Das Licht wird gelöscht. Sie lächelt immer noch. Work-Life-Balance kennt sie nicht. Sie wird auch nicht krank, hat keine privaten Termine und Kinder, die mittags mit einer Erkältung überraschend von der Schule abgeholt werden müssen. Claire ist die erste im Büro und die letzte. Und trotzdem lächelt sie. Immer.

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